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Notdienstkrise

„Bagatellfälle werden weniger“

Tierärzte in Schleswig-Holstein entwickelten und erprobten ein neues System für den Kleintiernotdienst. Dr. Angelika Drensler aus Elmshorn berichtet im Interview über kurze Nächte, zufriedene Patientenbesitzer und konstruktive Kollegendebatten.

Neue Notdienstregelung für Tierärzte in Schleswig-Holstein: Ein Computerprogramm berechnet die Anfahrtswege der Tierhalter so, dass natürliche Hindernisse – wie hier der Nord-Ostsee-Kanal – nicht umfahren werden müssen.
Neue Notdienstregelung für Tierärzte in Schleswig-Holstein: Ein Computerprogramm berechnet die Anfahrtswege der Tierhalter so, dass natürliche Hindernisse – wie hier der Nord-Ostsee-Kanal – nicht umfahren werden müssen.

Die Notdienstkrise beschäftigt Tierärztekammern in ganz Deutschland. In Schleswig-Holstein hat man seit 2020 an einer Lösung gearbeitet. Dr. Angelika Drensler führt eine Praxis in Elmshorn und berichtet als Mitglied der AG „Notdienst“ von den Erfahrungen mit dem neuen System für den Kleintiernotdienst, das im Januar 2022 offiziell installiert wurde.

Frau Dr. Drensler, es ist Freitagvormittag und Sie hatten bis heute morgen um 8 Uhr Notdienst. Wie war die Nacht?

Dr. Angelika Drensler: Eine richtige Nacht hatte ich eigentlich nicht. Um 22 Uhr kam ein Vier-­Kilogramm-Hund, der drei Schokoweihnachtsmänner mit insgesamt 180 Gramm Schokolade gefressen hatte. Zeitgleich wurde ein krampfender Hund im Status epilepticus gebracht. Das heißt, ich musste den ersten Hund spucken lassen und den zweiten schlafen legen und dann engmaschig überwachen. Ich bin jede Stunde aufgestanden, um den Zustand des Patienten, die Infusion und die Wirkung der krampflösenden Medikamente zu überprüfen.

Was haben denn Tierbesitzer in Ihrem Bundesland Schleswig-Holstein hinter sich, wenn sie bei Ihnen in Elmshorn im Notdienst ankommen?

Drensler: Sie haben die zentrale Nummer für den Kleintiernotdienst in Schleswig-Holstein gewählt, die seit dem 3. Januar 2022 in Betrieb ist. Bei einem Anruf auf der Notdienstnummer rechnet ein Computerprogramm anhand der Vorwahl oder der Postleitzahl, die Handy-Anrufer angeben müssen, aus, wo die nächste Notdienstpraxis liegt. Vor der Weiterleitung werden die Besitzer auf die im Notdienst entstehenden Kosten hingewiesen. Danach werden die Anrufer informiert, zu welchem Tierarzt an welchem Ort sie verbunden werden. Und dann klingelt es bei mir.

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Wie weit müssen die Tierhalter in der Regel fahren?


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Drensler: Die Patientenbesitzer müssen maximal etwa 30 bis 40 Minuten fahren. Das Programm wurde eigens für den Notdienst geschrieben und hat die Anfahrtswege so kurz wie möglich berechnet. Schleswig-Holstein wurde dafür in elf „Cluster“ aufgeteilt. Diese Bezirke wurden so entwickelt, dass die Wege der Tierhalter möglichst frei von natürlichen Hindernissen sind. Die Landkreise konnten nicht verwendet werden, weil sie viele Hindernisse enthalten, etwa den Nord-Ostsee-Kanal. In einem Cluster sind 25 bis 45 Tierarztpraxen. An jedem Tag hat in jedem Cluster eine Praxis Notdienst.

Wie lange wurde in Schleswig-Holstein an dem System gearbeitet?

Drensler: Ausgehend von der Kammer und mehreren Kollegen aus verschiedenen Praxen wurde Anfang 2020 eine „AG Notdienst“ gegründet. Die Kammer hatte das Projekt initiiert, weil bei ihr die Beschwerden von Kunden landeten, die im Notdienst keine Versorgung fanden. Auch das Problem des Kliniksterbens und die Schwierigkeiten der verbleibenden Kliniken, die im Notdienst durch die Versorgung von Bagatellfällen völlig überlastet waren, spielten dabei eine große Rolle. Die AG Notdienst traf sich meistens virtuell alle ein bis zwei Monate. Zuerst wurden Modelle anderer Kammern gesichtet und andere Computerprogramme angeschaut. Letztlich entschieden wir, unser eigenes Programm schreiben zu lassen, das all unseren Anforderungen entsprach.

Was bringt das neue System, außer, den Besitzern lange Anfahrten zu ersparen?

Drensler: Allein die Ansage auf dem Band führt dazu, dass Bagatellfälle weniger werden. Die Besitzer sind außerdem auf die höheren Kosten vorbereitet. Der Notdienst ist auch gerechter unter den Tierärzten aufgeteilt, weil jetzt 365 Notdienste durch die Zahl der Praxen bzw. Praxisinhaber eines Clusters geteilt werden. Das Programm gewichtet bei der Verteilung beispielsweise Dienste an Samstagen und Sonntagen schwerer als Dienste innerhalb der Woche, was auch zur Gerechtigkeit beiträgt.

Läuft denn das noch junge System seit dem 3. Januar 2022 reibungslos?

Drensler: Die größte Hürde musste vorher genommen werden. Denn alle Kolleginnen und Kollegen, die eine tierärztliche Hausapotheke angemeldet haben und Kleintiere behandeln, sollten nun am Notdienst teilnehmen. Viele hatten vorher gar keinen Notdienst übernommen. Doch unser Kammergesetz ist da sehr eindeutig.

Wenn jemand aber wirklich – der klassische Fall – kleine Kinder hat und an bestimmten Tagen einfach zu Hause sein muss: Welche Möglichkeiten bleiben dann noch?

Drensler: Sie können die Notdienste durchaus tauschen. Diese Möglichkeit bietet sogar das Computerprogramm. Im Alltag tauschen wir Dienste aber über eine Signal-Chatgruppe und das klappt immer. Wir vereinbaren dann in der Gruppe, einander eine Tauschanfrage über das Programm zu schicken. Es wäre sogar möglich, Dienste zu verkaufen, wie es zum Beispiel auch in der Humanmedizin schon gehandhabt wird, davon habe ich aber bei uns bisher noch wenig gehört. Bis Anfang November gab es zudem die Möglichkeit für alle, Wünsche für 2023 abzugeben, zum Beispiel „Keinen Mittwoch“ oder „Jahresurlaub von … bis …“, bevor das Programm dann die Lostrommel rührt. Außerdem sind für Fälle, die ein Tierarzt im Notdienst selbst nicht behandeln kann, weiterhin die Kliniken einsatzbereit. Dadurch entspannt sich aber die Situation für die Kliniken im Vergleich zu vorher, als sie fast kollabierten. Die Krallenfraktur oder die Mandelentzündung – das läuft jetzt alles nicht mehr bei den Kliniken im Notdienst auf.

Das hört sich so an, als ob Sie wirklich schwere Konflikte unter den Berufskolleginnen und -kollegen vermeiden konnten.

Drensler: Das System ist langsam gewachsen. Die Vorarbeit wurde auf den Kammerversammlungen geleistet, wo mit den Delegierten die Notwendigkeit einer Notdienstregelung diskutiert und das geplante System vorgestellt wurde. Im Herbst 2020 organisierte die Kammer eine große Einführungsveranstaltung in den Holstenhallen in Neumünster, gefolgt von kleineren Info-Veranstaltungen in den einzelnen Bezirken. Dort hatten alle Betroffenen die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Vor- und Nachteile zu diskutieren und Zweifel zu äußern.

Wieder geheilt: Kater Mikesch nach überstandener Zahnkronenfraktur im Oberkiefer und Symphysen-naher Fraktur mit Stufenbildung im Unterkiefer.
Was ist (k)ein Zahnnotfall?
Katzen mit Zahn-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen werden häufig als Notfall nach Autounfällen oder anderen traumatischen Einwirkungen wie Fenstersturz oder Bissverletzung vorgestellt.

Wurde das neue Notdienstsystem inzwischen schon evaluiert?

Drensler: Offiziell evaluiert noch nicht, soviel ich weiß. Aber natürlich tauschen wir uns aus. In unserer Signal-Gruppe zum Beispiel gab es gerade noch mal eine heiße Diskussion darüber, dass die Zahl der zugeteilten Notdienste inhabergebunden berechnet wird. Eine Gemeinschaftspraxis mit drei Kompagnons hat dreimal so viele Notdienste wie eine Praxis mit einem Inhaber und zehn angestellten Tierärzten. Es besteht jetzt der Wunsch, dass auf Tierärztezahlen umgerechnet wird. Dafür müsste allerdings nicht nur das Kammergesetz geändert werden, sondern es würde auch einen sehr hohen Verwaltungsaufwand bedeuten, weil die Assistentenzahlen in Praxen häufig schwanken. Ansonsten wird generell immer wieder gewünscht, dass die Notdienstnummer zu einer Bezahlhotline wird, damit sich auch eine Beratung abrechnen lässt, wenn es nicht zu einem Besuch in der Praxis kommt. Das konnte bisher aus technischen Gründen nicht realisiert werden.

Was ist Ihr persönliches Fazit nach dem ersten Jahr mit dem neuen System?

Drensler: Insgesamt ist die Stimmung unter den Kolleginnen und Kollegen sehr gut. Von den Tierhaltern kommt ein begeistertes Echo. Es gibt so gut wie nie Diskussionen um die Höhe der Rechnung und die Bezahlung vor Ort. Ich persönlich finde es toll, dass ich jetzt guten Gewissens mal das Telefon ausschalten und auf den Notdienst verweisen kann. Aber etwas anderes freut mich besonders: Wir Kolleginnen und Kollegen machen einen gemeinsamen Notdienst, wir besprechen uns und wir lernen uns besser kennen. Wir sind durch die neue Notdienstregelung näher zusammengerückt. (Christina Hucklenbroich)

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