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Wirtschaftskrise

Die neue Armut der Tierhalter

Inflation und Energiekrise treffen finanziell schwache Tierbesitzer hart. Die Stimmen, die grundsätzliche Lösungen fordern, werden lauter. Sollte es Tierarzt-Gutscheine vom Staat oder ähnliche Hilfen geben? 

Mehr Zulauf seit diesem Jahr: Bei der Futterhilfe Münster e.V. können bedürftige Tierhalter sich Futter für ihre Tiere abholen. Ermöglicht wird diese Hilfe durch Spenden.
Inhaltsverzeichnis

Eine gute Wohngegend im westfälischen Münster, unweit des Stadtzentrums, an einem sonnigen Samstagnachmittag im Spätherbst. Vor der Tür einer leerstehenden Fleischerei in einem roten Backsteinbau bildet sich eine Schlange aus Menschen. Hinter der alten Fleischertheke im gefliesten Innenraum türmen sich Dosen mit Hunde- und Katzenfutter, Säcke mit Trockenfutterpellets, Heupakete für Nager, Knabberstangen für Ziervögel. In dem leerstehenden Ladengeschäft hat der Verein Futterhilfe Münster e. V. Quartier bezogen, an zwei Samstagen im Monat öffnet die Ausgabestelle für bedürftige Tierhalter.

Seit zwölf Jahren gibt es den Verein, der 400 Tiere in seiner Kartei führt und mit Futter versorgt, das mit Spendengeldern gekauft oder von Firmen gestiftet wird. Vor einem Jahr mussten die Ehrenamtlichen einen neuen Ort für die Ausgabe suchen und in die Fleischerei in der Gartenstraße umziehen, sonst war aber lange vieles gleich geblieben, die Regeln zum Beispiel: Jeder Kunde der Hilfsorganisation muss nachweisen, dass er Sozialleistungen bezieht – sei es Arbeitslosengeld II, auch als „Hartz IV“ bekannt, Wohngeld oder Grundsicherung neben der Rente. Nur maximal drei Tiere pro Haushalt werden mit Futter versorgt.

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„Massiv mehr Zulauf“

Auch die Nachfrage blieb lange unverändert. „Aber seit diesem Jahr, eigentlich seit Kriegsbeginn, bemerken wir eine große Verunsicherung und bekommen massiv mehr Zulauf“, berichtet Leslie Bernecker, die erste Vorsitzende der Futterhilfe. „Neu ist, dass die Leute schon eine halbe Stunde vor Öffnung Schlange stehen. Neu ist auch, dass sie vermehrt wegen Nagern, Kaninchen und Ziervögeln kommen – wir hatten bisher den Eindruck, dass das Futter für diese Tiere so wenig kostet, dass die Summe von den meisten Menschen noch selbst aufgebracht werden kann.“ Auch der Tierarzt, der im winzigen ehemaligen Kühlraum der Fleischerei unentgeltlich Routinechecks durchführt, hat jetzt mehr zu tun. Heute untersucht er als eines der ersten Tiere einen kleinen, schon älteren Mischlingsrüden. Tierarztbesuche könne er sich ohne die Futterhilfe nicht leisten, sagt der Besitzer, ein Rentner, der seit Gründung der Futterhilfe für seinen Hund und seine Katze Unterstützung erhält. „Ich weiß nicht, wie es aussehen würde, wenn ich hier nicht hinkommen könnte“, sagt der 76-Jährige.

So wie dem Hundehalter und den anderen Kunden der Futterhilfe, die mit Rollkoffern, Baby-Buggys und Reisetaschen auf dem Bürgersteig warten, geht es vielen Menschen in Deutschland. Aufgrund der Wirtschaftskrise mit Inflation und steigenden Energiepreisen können die Ärmsten kaum noch ihren Bedarf an grundlegenden Gütern selbst decken. In den vergangenen Wochen hat sich auf Twitter eine Bewegung formiert, die unter dem Hashtag #IchBin­Armutsbetroffen auf die Lage aufmerksam macht. Aus der Twitter-Bewegung sind inzwischen auch öffentliche Demonstrationen geworden. 13,8 Millionen Menschen müssen in Deutschland derzeit laut Paritätischem Armutsbericht zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.

Immer mehr Ratenzahlungen

Längst spüren auch Tierärzte in ganz Deutschland die Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklung. „Im vergangenen Vierteljahr haben wir 15 Teilzahlungen abgeschlossen, das haben wir in dem ganzen Jahr davor nicht erlebt“, sagt Dr. Bodo Kröll, Leiter des Fachtierarzt-Zentrums für Kleintiere in Erfurt. „Routineeingriffe werden häufig verschoben und manche Besitzer haben zuletzt auch die Rate für die OP- oder die Tierkrankenversicherung nicht mehr bezahlen können.“

Kröll ist stellvertretender Vorsitzender der AG von Bundestierärztekammer (BTK) und Bundesverband Praktizierender Tierärzte (bpt) zur Gebührenordnung für Tierärztinnen und Tierärzte (GOT) und hat sich in den vergangenen Jahren viele Gedanken über die Möglichkeiten gemacht, die Tiere von finanziell eingeschränkten Haltern medizinisch zu versorgen – als Berufspolitiker, als jahrelang im Tierschutz Aktiver, der für die Tiertafel Erfurt die Haustiere Bedürftiger betreute, aber auch als niedergelassener Tierarzt und Klinikinhaber. Die GOT legt fest, dass die einfachen Gebührensätze nur „im begründeten Einzelfall“ unterschritten werden dürfen. Nach Krölls Erfahrungen haben sich mehrere unterschiedliche Strategien etabliert und bewährt, um mit der finanziellen Not von Tierhaltern umzugehen und dabei den gesetzlichen Rahmen zu beachten. „Manche Praxen haben für solche Fälle eine Spendenbüchse im Wartezimmer stehen“, nennt Kröll ein Beispiel. „Wir haben außerdem einige Male über Facebook erfolgreich zu Spenden aufgerufen. Wenn beispielsweise ein Hund eine Fraktur hat und der Halter die OP-Kosten einfach nicht aufbringen kann, startet der Besitzer über seinen Facebook-Account einen Spendenaufruf. Wir erklären ihm, wie das geht, und unterstützen ihn. Andere Praxen rufen auch über ihren eigenen Facebook-Account zu Spenden auf.“

Paten für Dauertherapien

Die in solchen Fällen zusammengekommenen Beträge seien bisher immer eine echte Hilfe für den Halter gewesen, sagt Kröll. „Das alles muss man aber ehrlich kommunizieren, es gibt auch ein gewisses Missbrauchspotenzial“, räumt er ein. Sei es realistisch für den Halter, die Kosten in absehbarer Zeit abzustottern, so hält Kröll eine Teilzahlung mit Ratenzahlung für eine gute Lösung. Als letzte Option, die er aber nur in manchen Fällen für denkbar hält, nennt Kröll einen Abtretungsvertrag. „Die Praxis behandelt das Tier dann auf eigene Kosten wie ein eigenes.“ Anschließend wird ein neuer Besitzer gesucht.

Insbesondere, wenn Tierhalter nicht in der Kartei einer der deutschen „Tiertafeln“ sind, bleiben in der Regel nur diese Optionen. Tiertafeln und andere Vereine hingegen bieten ihren Kunden häufig eine spendenfinanzierte tierärztliche Sprechstunde, die umsonst oder für einen geringen Pauschalbetrag in Anspruch genommen werden kann. Oft werden auch über Routineuntersuchungen hinaus tierärztliche Leistungen ermöglicht: Die „Soziale Tier-Not-Hilfe“ in Frankfurt am Main etwa gewinnt für chronisch kranke Tiere Paten, die eine Dauertherapie bezahlen. Die Tiertafel in Dortmund verteilte in diesem Herbst erstmals Gutscheine für eine tierärztliche Online-Beratung. Das „Forum gegen Armut“ im westfälischen Ahlen kooperiert mit der Tierklinik Ahlen, die Impfungen, Wurmkuren oder auch Kastrationen für die Tiere Bedürftiger organisiert.

„Beratung und Soforthilfe“

Bei der Futterhilfe in Münster lässt sich beobachten, was ein niedrigschwelliger Tierarztbesuch für die Halter und ihre Tiere bedeutet: Die Kunden können mit dem Tierarzt, den hier alle nur als „Dr. Klaus“ kennen, ihre Sorgen teilen und Fragen stellen.

„Es geht hier um Beratung und Soforthilfe“, sagt Dr. Klaus. „Den Leuten kann man häufig schon helfen mit einer vernünftigen Empfehlung.“ Oft müsse die aber lauten, dass man wirklich in eine Praxis gehen solle, denn, so der Tierarzt, in der Regel sehe er ältere Hunde und Katzen mit Schmerzzuständen: „Zahnschmerzen, Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen.“ Dr. Klaus, der jahrelang eine Gemischtpraxis im Münsterland führte, bevor er sie krankheitsbedingt aufgab, würde sich wünschen, dass es noch weitergehende Sonderregelungen in der GOT für Tiere von Bedürftigen gäbe.

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Tierarztkosten im Hartz-IV-Regelsatz?

Inzwischen werden aber auch noch andere Lösungen diskutiert, die außerhalb der Verantwortung der Tierärzteschaft liegen würden. Der Paritätische Gesamtverband kritisiert regelmäßig, dass im Hartz-IV-Regelsatz bestimmte Bedarfe nicht berücksichtigt sind. Dazu gehört auch die Tierhaltung mit allen verbundenen Kosten. 449 Euro beträgt der Regelsatz für einen Erwachsenen. Ab 2023, beim neuen „Bürgergeld“, sollen es 53 Euro mehr sein.

„Berechnet wird der Regelsatz durch Auswertung der Ausgaben einer bestimmten Gruppe, nämlich der 20 Prozent einkommensschwächsten Haushalte in Deutschland“, erklärt Andreas Aust, sozialpolitischer Referent im Paritätischen Gesamtverband. 37 Euro gäben die Tierhalter in dieser Gruppe monatlich im Schnitt für ihre Tiere aus, so Aust. Der Posten sei bisher nicht in die Regelsatzberechnung durch die Bundesregierung eingeflossen, da Haustiere nicht der „Existenzsicherung“ dienten. „Wir fordern generell eine Erhöhung des Regelsatzes um mindestens 200 Euro“, sagt Aust. „Das wäre dann auch eine Erleichterung für diejenigen, die Tiere halten.“

Tierhaltung als „Mehrbedarf“ berücksichtigen?

Einen noch weitergehenden Vorschlag hat Simone Rost, Studentin für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Rost schrieb im vergangenen Jahr für ein Seminar ein Thesenpapier mit dem Titel „Das Haustier als Bestandteil eines menschenwürdigen Existenzminimums?“. Ihr Dozent lud sie daraufhin zu einer Sitzung des Arbeitskreises Armutsforschung der Diakonie Hessen ein, sodass ihre Ergebnisse einem größeren Kreis von Armutsexperten bekannt werden konnten.

„Man könnte die Tierhaltung als sogenannten Mehrbedarf für Hartz-IV-Empfänger berücksichtigen“, schlägt Rost vor. Einen Anspruch auf „Mehrbedarf“ und damit höhere monatliche Zahlungen haben unter den Hartz-IV-Beziehern beispielsweise Schwangere, Alleinerziehende oder Menschen, die eine besondere Ernährung benötigen. „Auf diese Weise könnte man sich besser an der Lebensrealität der Betroffenen orientieren und das Ganze individualisierter darstellen, zum Beispiel auch die Tierart berücksichtigen“, sagt Rost, die hervorhebt: „Ein Haustier ist nicht einfach nur ein Gegenstand oder ein Statussymbol, sondern seine Haltung hängt mit psychischer Gesundheit zusammen und ermöglicht soziale Teilhabe.“

Forschung wie die von Simone Rost, die sich mit Haustierhaltung unter Armutsbedingungen beschäftigt, ist ein noch neues wissenschaftliches Gebiet, dessen Bedeutung aber international langsam erkannt wird: In seinem 2020 erschienenen Buch „Underdogs: Pets, People, and Poverty“ vergleicht der amerikanische Soziologe Arnold Arluke die heute vielfach fehlende tiermedizinische Versorgung der Tiere armer Halter mit der dramatischen Tierschutzkrise der 1970er-Jahre in den USA, als Hunde und Katzen noch nicht kastriert wurden und ein Überfluss an ungewollten Jungtieren die Folge war.

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Appell an die Solidarität

Der Deutsche Tierschutzbund fordert grundsätzliche Maßnahmen, damit Tiere auch in der gegenwärtigen Wirtschaftslage weiter medizinische Behandlungen erhalten. Im Hinblick auf die GOT-Erhöhung argumentiert der Verband, dass Tierhalter bei der Anschaffung diesen zusätzlichen Kostenfaktor noch nicht voraussehen konnten, und schlägt Gutscheine für bedürftige Halter vor, die offiziell von Behörden ausgestellt und befristet für tierärztliche Behandlungen eingesetzt werden könnten.

Ob es auch darüber hinaus eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Preise für tierärztliche Leistungen geben wird, ist derzeit noch ungewiss. Der Erfurter Tierarzt Bodo Kröll von der BTK/bpt-AG GOT verortet hitzige Diskussionen über die Gebührenordnung derzeit noch vorwiegend innerhalb der Tierärzteschaft, weniger außerhalb. Hinsichtlich vieler armutsgefährdeter Halter scheint es ihm wichtig, „den Solidaritätsgedanken untereinander noch einmal hervorzuheben: Eine Freundin bezahlt die Behandlung des Tieres oder die Familie legt zusammen – das sehen wir immer wieder, und daran kann man auch in der gegenwärtig schwierigen Situation appellieren“. (Christina Hucklenbroich)

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