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Bissprävention 19. Dezember 2017

Für ein sicheres Miteinander

Kinder und Hunde: Nicht immer ist diese Konstellation unproblematisch.

Inhaltsverzeichnis

Was denkst Du über diesen Hund?, fragte Psychologin Kerstin Meints ihren kleinen Sohn und zeigte ihm ein Foto. „Der lacht laut!“, antwortete das damals vierjährige Kind, „Ich möchte hingehen und ihn fest umarmen.“ Der Hund auf dem Bild hatte das Maul geöffnet, fixierte sein Gegenüber und zeigte die Zähne – er drohte aggressiv und angriffsbereit.

„Kinder verstehen die Signale nicht“, erläutert Meints auf dem Kongress der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft (DVG) in Berlin, wo sie von dieser Unterhaltung erzählte. Sie forscht an der Universität Lincoln in Großbritannien unter anderem zu Mensch-Tier-Interaktion und Hundebiss-Prävention. In einer Longitudinalstudie testete die Professorin, wie gut Kindergartenkinder und ihre Eltern anhand von Fotos bzw. Videos die Signale von Hunden interpretieren können: Die Fehlerrate bei subtileren Stress-Signalen wie Nase-Lecken oder Gähnen lag sogar bei den Erwachsenen bei fast 70 Prozent, bei den Kindern deutlich höher. Hundehalter schneiden nicht besser ab als Leute ohne Haustier.

Dabei machen vor allem kleine Kinder häufig den verhängnisvollen Fehler, aggressive Signale als „fröhlich“ zu deuten. Die gute Nachricht: Menschen sind lernfähig. Nach Meints‘ Training können 74–100 Prozent der Erwachsenen Gesichtsausdrücke und Körperhaltung der Hunde richtig einordnen. Auch Kinder lernen das und erzielen bessere Ergebnisse, je älter sie sind.

Hunde sprechen eine andere Sprache

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Kleine Kinder handeln intuitiv und gehen von ihren eigenen Wünschen aus, wenn sie das Verhalten eines Hundes beurteilen. Das Kind mag den Hund? „Dann wollen wir kuscheln!“ Der Vierbeiner versteckt sich? „Er will spielen, am besten, ich hole ihn unter dem Sofa hervor.“

So zu denken, ist nur menschlich und auch Erwachsene sind nicht davor gefeit, dem Tier eigene Vorstellungen unterzuschieben. „Menschen müssen lernen, die Perspektive des Hundes zu berücksichtigen“, erklärt die Professorin für Verhaltensmedizin Tiny De Keuster. „Mensch und Hund leben zwar zusammen, sind aber unterschiedliche Arten, mit verschiedenen Sprachen und sozialen Regeln“. Werden die Signale des Tieres ignoriert, steigt das Risiko für Beissunfälle.


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Doch das Thema „Bissprävention“ ist bei den meisten Hundebesitzern wenig beliebt. Es scheint unvorstellbar, dass der eigene Familienhund beissen könnte, schließlich ist er so freundlich und so gut erzogen. „Die individuelle Reizschwelle ist kontextabhängig“, weiß De Keuster. Und selbst ein sehr gut erzogener Hund kann in einer Stress-Situation emotional dysfunktional sein.

Hohe Dunkelziffer bei Hundebissen

Hundebisse sind keine Randerscheinung, sondern ein ernstes und weitreichendes Problem. In Deutschland gibt es keine bundesweite Beißstatistik. Jedes Bundesland entscheidet, ob und in welcher Form Beißvorfälle erfasst werden. Eine Meldepflicht für Hundebisse existiert nur in Sachsen-Anhalt.

Dort wurden für das Jahr 2016 55 Vorfälle gezählt, bei denen ein Mensch verletzt wurde. In Berlin waren es 614, in Nordrhein-Westfalen 909. Die Dunkelziffer liegt jedoch wahrscheinlich weitaus höher. Meints nennt Studien mit Interviewdaten, bei denen fast die Hälfte der Befragten angab, im Laufe ihrer Kindheit und Jugend mindestens einmal gebissen worden zu sein.

Am größten ist die Gefahr für Kinder unter sieben Jahre: Bei 70 bis 80 Prozent der Vorfälle beißt ein gut bekannter Hund ein Kind in diesem Alter. Meistens geht dem Biss eine (oft gut gemeinte) Interaktion des Kindes mit dem Hund voraus. Prävention ist also besonders für diese Altersgruppe wichtig. Sie sollte da stattfinden, wo es am häufigsten zu Unfällen kommt: Zuhause. Hier setzt Der Blaue Hund an.

Ein Comic-Hund klärt auf

Der Blaue Hund ist eine Lern-Software für Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Entwickelt wurde das Programm vor zehn Jahren in Belgien durch ein europäisches und interdisziplinäres Team aus Tier- und Kinderärzten, Ethologen, Psychologen, Pädagogen und Künstlern. Kinder erleben im Spiel 15 Alltagsszenen mit dem Familienhund, in denen es bei falschem Verhalten zu einem Biss kommen könnte. „Kann ich mal probieren, was der Hund da frisst?“ „Was tue ich, wenn wir beide dasselbe Spielzeug haben möchten?“ Hund „Blue“ reagiert mit einem Knurren oder belohnt sicheres Verhalten mit einer kleinen, lustigen Geschichte. Für die Eltern gibt es ein ausführliches Begleitheft.

Hildegard Jung, Vorsitzende von Blue Dog Deutschland und promovierte Verhaltensmedizinerin hebt hervor, dass der Lerneffekt für die Altersgruppe von drei bis sechs Jahren wissenschaftlich belegt ist – durch Studien u.a. von Kerstin Meints.

Angebote, in denen Kinder den Umgang mit Hunden lernen sollen, sind gerade in Mode. Doch eine Evaluation fehlt zumeist, der Nachweis, dass sich Kinder danach sicherer verhalten, ist schwierig. Wichtig wäre, dass geschulte Pädagogen standardisiertes Wissen vermitteln, erklärt Jung. Überhaupt würde sie sich wünschen, dass jedem Hundehalter Grundwissen zu Hundeverhalten und Bissprävention vermittelt würde, zum Beispiel im Rahmen eines Hundeführerscheins. So könnten zahlreiche Missverständnisse zwischen den Spezies ausgeräumt werden, hofft Jung: „Schließlich ist die Beziehung zwischen Hund und Mensch zu schön, um sie auf`s Spiel zu setzen.

Blue und seine Freunde

  • Der Blaue Hund ist erhältlich als CD oder zum Download mit Begleitbuch. Ganz neu ist mit Unterstützung der DVG auch eine App entstanden: in App- und Play Store zu finden unter „The Blue Dog“.

  • Tapsi komm ist eine Broschüre des Schweizer Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen, die Kindern ab vier Jahren in lustigen Bildern erklärt, wie sie sich gegenüber einem Hund verhalten sollten.

  • Beißt der? ist ein evaluiertes Schulprojekt, in erster Linie für die zweite Klasse. Das Projekt baut auf angloamerikanischen „Prevent-a-bite“-Programmen auf und wurde von Hildegard Jung modifiziert.

Über die Autorin

Als Fachjournalistin arbeitet Dr. med. vet. Viola Melchers vor allem für die Fachzeitschrift Der Praktische Tierarzt und das Portal vetline.de. Die promovierte Tierärztin schreibt über Spannendes aus der veterinärmedizinischen Praxis und Wissenschaft.

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