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Zahnnotfälle in der Kleintierpraxis

Was ist (k)ein Zahnnotfall?

Katzen mit Zahn-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen werden häufig als Notfall nach Autounfällen oder anderen traumatischen Einwirkungen wie Fenstersturz oder Bissverletzung vorgestellt.

Wieder geheilt: Kater Mikesch nach überstandener Zahnkronenfraktur im Oberkiefer und Symphysen-naher Fraktur mit Stufenbildung im Unterkiefer.
Inhaltsverzeichnis

Von Dr. med. vet. Martina van Suntum

Äußere Verletzungen durch Unfälle an Zähnen, Kiefer oder im Gesicht sind für Katzenbesitzer offenkundig als Zahnnotfall erkennbar. Aber auch vermehrtes Speicheln, Blutstropfen am Maul oder Inappetenz werden mit akuten Erkrankungen der Maulhöhle in Verbindung gebracht und sind Grund für die Vorstellung im Notdienst. In diesen Fällen handelt es sich allerdings oft um chronische Erkrankungen, die erst durch diese Symptome von den Tierbesitzern bemerkt werden

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Hunderassen auf den Zahn gefühlt
Erkrankungen des Zahnhalteapparates und des Zahnfleischs gehören zu den häufigsten Befunden bei Patienten in der tierärztlichen Grundversorgung. Dass dabei die Rassezugehörigkeit eine bedeutende Einflussgröße ist, zeigt eine aktuelle Studie.

Die Sorgen der Besitzer ernst nehmen!

Die telefonische Annahme der Patienten sowie die persönliche Annahme der Patienten bei Vorstellung in der Praxis sind sowohl für die Kommunikation mit den Tierbesitzern, aber vor allem auch für die bestmögliche Versorgung der Patienten wichtig: Hier sind die Tiermedizinischen Fachangestellten erste kompetente Ansprechpartner. Wenn möglich, sollte bereits bei telefonischer Anmeldung der Patienten eine erste Einschätzung des Schweregrades des Notfalls vorgenommen werden, damit entsprechende Vorbereitungen für die medizinische Versorgung des Patienten getroffen werden können  (siehe weiter unten). Die Sorgen der Katzenbesitzer sollten ernst genommen werden, auch wenn es sich um ein vermeintlich verschlepptes Problem handelt. Viele chronische Erkrankungen werden für Tierbesitzer erst offenkundig, wenn Schwellungen oder Blutungen sichtbar werden oder die Katzen schmerzbedingt inappetent werden. Auch Schmerzpatienten sind Notfallpatienten – man denke nur an seine eigenen Zahnschmerzen!

Erst stabilisieren, dann versorgen!

Bei Verletzungen im Kopfbereich liegt häufig ein Unfallgeschehen des gesamten Körpers zugrunde und die Tiere weisen multiple Verletzungen auf. Die Abklärung der lebensbedrohlichen Verletzungen und die Stabilisierung der Patienten sind daher unbedingt vorrangig vor der Diagnostik und Therapie der Zahn- und Kieferverletzungen vorzunehmen. Erst wenn die Patienten ausreichend stabilisiert sind, kann die Abklärung in Narkose durch Dentalröntgen und Computertomografie erfolgen. Oft sind Katzen mit Schädelverletzungen Patienten, die im Konsil mit anderen Spezialisten wie Ophthalmologen und Neurologen therapiert werden. Es ist selbstverständlich, dass eine angemessene Schmerztherapie eingeleitet wird. Gleichzeitig ist die Betreuung der Tierbesitzer essenziell, die unter dem Eindruck der Schädelverletzungen ihres Tieres unter Schock stehen. Die genaue Abklärung der Verletzungen und damit die Aussage zur Prog-nose sind erst nach Stabilisierung des Patienten und Erlangung der Anästhesiefähigkeit möglich. Für die Besitzer ist diese Zeitspanne wegen der ungewissen Prognose eine emotional schwierige Phase, in der wir sie gut begleiten sollten. Vor allem sollten die Tierbesitzer nicht im Schock eine Entscheidung zur Euthanasie treffen. Die meisten Unfallpatienten haben eine realistische Chance auf Wiederherstellung der Lebensqualität (siehe Abb. 1a und b).

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Zahnerkrankungen verursachen Schmerzen und können zu Organschädigungen führen. Beraten Sie den Besitzer frühzeitig über geeignete Maßnahmen zur Maulhygiene.

Mit welchen Verletzungen ist zu rechnen?

Kieferfrakturen sehen wir bei Unfallkatzen sehr häufig. Es kann sich dabei offenkundig um Frakturen handeln, die bereits bei der klinischen Untersuchung erkennbar sind, wie beispielsweise Frakturen des Unterkiefers, oder aber um Frakturen des Kiefergelenks oder des Oberkiefers, die nur in der computertomografischen Untersuchung erfasst werden können. Katzen mit Schädelverletzungen sollten, wenn möglich, eine Computertomografie des Kopfes erhalten.

Eine häufige Schädelverletzung ist die Separation der Unterkiefersymphyse oder eine Fraktur nahe der Symphyse. Die Tiere zeigen eine Stufenbildung in der Reihe der Unterkieferschneidezähne und eine abnorme Beweglichkeit im Unterkiefer (siehe Abb. 2). Die Symphyse verbindet die beiden Unterkiefer (rechte und linke Mandibula) mit straffem Bindegewebe und ist damit eine gelenkähnliche Verbindung und kein Knochen, der frakturieren kann. Deshalb spricht man von einer Symphysenseparation. Echte Frakturen nahe der Symphyse sind Zusammenhangstrennungen des Unterkieferknochens.

Die Symphysenseparation kann mithilfe einer Drahtcerclage relativ einfach und erfolgreich behandelt werden. Ein Cerclagedraht wird zirkulär um den vorderen Bereich des Unterkiefers angelegt, dem Knochen eng anliegend. Der Draht liegt hinter den Unterkieferfangzähnen unter der Haut und die Drahtenden verlassen den Unterhautbereich an der Unterseite des Kinns oder seitlich hinter einem Fangzahn. Hier werden die Drahtenden verquirlt, der Quirl unter der Haut (Kinn) oder der Schleimhaut (seitlich hinter einem Caninus) versenkt und die Haut bzw. Schleimhaut mit einer Naht geschlossen. Der Cerclagedraht sollte unbedingt so angelegt werden, dass er wenig stört und keine Schmerzen verursacht (siehe Abb. 3)

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Welches Schema für die Zahndokumentation bei Hunden und Katzen genutzt wird und worauf es ankommt, lesen Sie hier.

Bei Patienten mit Symphysenseparationen (siehe Abb. 4) gilt es, aufmerksam nach weiteren Verletzungen des Kiefers Ausschau zu halten: Oft werden Sympyhsenseparationen von weiteren Kieferverletzungen, zum Beispiel Frakturen oder Luxationen des Kiefergelenks, begleitet. Eine Symphysenseparation des Unterkiefers und symphysennahe Frakturen können bei der Untersuchung sehr ähnlich aussehen. Die obligatorisch anzufertigen Dentalröntgenbilder ermöglichen eine Unterscheidung.

Frakturen des Kiefergelenks sind auf Röntgenbildern meist nicht erkennbar. Für Kiefergelenksverletzungen ist die Computertomografie daher das Bildgebungsverfahren der ersten Wahl. Frakturen des Kiefergelenks sind schmerzhaft. Die Therapie besteht in einer Ruhigstellung des Gelenks. Hierzu kann eine Verblockung der Fangzähne von Ober- und Unterkiefer mittels Compositebrücke vorgenommen werden (siehe Abb. 5).

Eine absolute Ruhigstellung ist allerdings nicht optimal, weil damit die Versteifung des Kiefergelenks, die Kiefergelenksankylose, begünstigt werden kann. Semirigide Fixationsverfahren wie beispielsweise ein Schnauzenhalfter, sind wesentlich besser geeignet (siehe Abb. 6). Ein großer Vorteil des Schnauzenhalfters ist außerdem, dass es bei Bedarf sehr rasch entfernt werden kann. Grundsätzlich kann jede Art der Ruhigstellung erst erfolgen, wenn keine atembehindernde Schwellung mehr vorliegt.

Frakturen des Oberkiefers sind mittels Computertomografie gut darstellbar. So kann entschieden werden, ob diese versorgt werden müssen oder nicht. Die meisten Frakturen des Oberkiefers müssen nicht therapiert werden. Eine Ausnahme ist die Symphysenseparation des Oberkiefers, die mit Bildung einer Gaumenspalte einhergeht. Dabei kann es in leichteren Fällen ausreichen, die Gaumenspalte chirurgisch per Naht zu verschließen, während bei Katzen mit breiterem Spalt die betroffenen Kieferanteile des Gaumens mittels Drahtcerclage angenähert werden müssen.

Kiefergelenksluxationen fallen dadurch auf, dass Katzen das Maul nicht mehr schließen können und der Unterkiefer zu einer Seite hin, zur nichtluxierten Seite, verschoben ist. Meistens ist der Kondylus (Gelenkwalze des betroffenen Unterkiefers) nach vorne und oben luxiert (siehe Abb. 7). Die Darstellung gelingt optimal mittels Computertomografie und die Therapie besteht in der manuellen Reposition. Wenn keine Frakturen im Gelenkbereich vorliegen, ist keine Ruhigstellung notwendig und die Prognose gut.

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Eingriffe in der Maulhöhle sind nass, unruhig und dauern oft länger als geplant. Experte Korbinian Pieper gibt Tipps für eine stressfreie Narkose.

Zahnfrakturen der Zahnkrone können mit oder ohne Eröffnung der Pulpa (Zahnmark) vorkommen (siehe Abb. 8). Ist die Pulpa eröffnet, sprechen wir von „komplizierten Zahnkronenfrakturen“, ist die Pulpenhöhle nicht eröffnet, sprechen wir von sogenannten „unkomplizierten Zahnkronenfrakturen“. Die Pulpa enthält Blutgefäße und sehr sensible Nervenfasern. Durch die Eröffnung der Pulpa entstehen sofort Schmerzen. Außerdem können innerhalb von Stunden Infektionserreger in das Pulpensystem eindringen, sich über die Pulpa ausbreiten und über diesen Weg auch den Kieferknochen erreichen.

Die rasche Versorgung einer komplizierten Zahnfraktur (mit Pulpeneröffnung) mittels Füllungstherapie der Zahnfraktur wäre daher wünschenswert. Sollte die Fraktur eines Zahnes bei einem Unfallpatienten vorliegen, so ist die Schockbehandlung und Stabilisierung des Patienten natürlich vorrangig.

Die Versorgung einer frischen komplizierten Zahnfraktur, die nicht älter als etwa 24 Stunden ist, kann mittels Vitalamputation des proximalen Pulpenteils mit anschließender Füllungstherapie versucht werden. Ist die Fraktur bereits deutlich älter, kommt eine endodontische Versorgung (Edodontie = Wurzelkanalbehandlung) in Form der Wurzelfüllung in Betracht. Für die strategisch wichtigen Fangzähne der Katze sollte dem Tierbesitzer die Möglichkeit des Zahnerhalts durch eine Wurzelfüllung als Therapieoption angeboten werden. Wenn kein Zahnerhalt angestrebt werden soll, ist der Zahn zu extrahieren.

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Zahnerkrankungen bei der Katze
In der aktuellen Herbst-Ausgabe des TFA-Magazins "Tierisch dabei" geht es um kranke Zähne bei der Katze. Feline Patienten leiden häufig unbemerkt unter schwerwiegenden Erkrankungen der Zähne und des Zahnfleischs. Auch traumatisch bedingte Zahn-, Kiefer- und Gesichtsverletzungen sind keine Seltenheit.

Sogenannte „unkomplizierte Kronenfrakturen“ reichen nur in die Dentinschicht (Zahnbein) des Zahnes, eröffnen die Pulpa jedoch nicht. Im Dentin befinden sich Dentinkanälchen, die bis an die Schmelz-Dentingrenze heranreichen. Über diese Kanälchen findet eine Kommunikation zur Pulpa statt: sowohl für Schmerzempfindungen als auch für Bakterien. Aus diesem Grund müssen auch diese Zahnfrakturen versorgt werden. Der Begriff „unkompliziert“ ist deshalb verharmlosend und irreführend. Bei Katzen sehen wir fast immer komplizierte Kronenfrakturen mit Eröffnung der Pulpa.

Auch Schmerzpatienten sind Notfallpatienten

Eine weitere Gruppe von tierzahnärztlichen Notfallpatienten sind Katzen mit orofazialen Schmerzen unterschiedlicher Genese.

Die zugrundeliegenden Ursachen sind sehr vielgestaltig und reichen von resorptiven Läsionen über feline chronische Gingivostomatitis (FCGS) bis zu oralen Tumoren. Insbesondere Katzen mit chronischer Gingivostomatitis haben meist einen langen Leidensweg hinter sich. Bei der felinen chronischen Gingivostomatitis kommt es zur Entzündung fast aller Schleimhäute im Maul sowie zu Parodontitis und 50 % der Patienten leidet außerdem an resorptiven Läsionen. Die Erkrankung ist hochgradig schmerzhaft. Leider können viele Katzenbesitzer Schmerzzeichen ihrer Tiere nicht deuten. Aufgrund des katzenspezifischen Verhaltensrepertoires ziehen Katzen sich bei Schmerzen zurück und schlafen vielleicht einfach mehr und reduzieren die Sozialkontakte zum Besitzer. Dies wird oft als „normales Älterwerden“ fehlinterpretiert und die Katzen werden deshalb erst spät im Krankheitsverlauf vorgestellt.

Wie sieht die Arbeit einer TFA in London aus?
Laura Cashman arbeitet in London als „Royal Veterinary Nurse“. Wir haben sie zu ihrer Arbeit als britische TFA interviewt.

Für diese Patienten muss „Erste Hilfe“ geleistet werden: Sie benötigen potente Schmerzmittel, je nach Fall können NSAIDs oder Opiate eingesetzt werden. Die gründliche Untersuchung der Maulhöhle und das obligatorische intraorale Dentalröntgen in Narkose können anschließend an einem geplanten Termin stattfinden.

Fazit

Nehmen wir die Sorgen der Tierbesitzer ernst und ermöglichen die Vorstellung der Katzen in der Praxis oder Klinik. Bei Unfallpatienten steht die Stabilisierung im Vordergrund, bis die Patienten sediert oder narkotisiert werden können, um das Ausmaß der Verletzungen diagnostisch abzuklären. Schädeltrauma-Patienten sollten wenn möglich computertomografisch untersucht werden.

Auf einen Blick: Zahnnotfall – erste Fragen am Telefon

Katzen mit Kopftrauma sollten grundsätzlich einbestellt werden. Die Beantwortung der folgenden Fragen kann jedoch für den Tierarzt für eine erste Einschätzung hilfreich sein.

Katzen mit Kopftrauma sollten grundsätzlich einbestellt werden. Die Beantwortung der folgenden Fragen kann jedoch für den Tierarzt für eine erste Einschätzung hilfreich sein.

  • Kann Ihr Tier normal atmen? → ggf. Sauerstoffbox vorbereiten
  • Besteht eine Blutung am Kopf oder Maul? → immer kommen lassen oder weiterleiten
  • Hechelt Ihre Katze? → Stress, Schmerzen
  • Kann Ihre Katze das Maul schließen? → Wenn ja, dann hat sie vermutlich gehechelt oder Atemnot. // → Wenn nein, dann liegt wahrscheinlich eine Fraktur oder Luxation vor.

Fragen bei Zahnfrakturen

  • Wann ist der Zahn abgebrochen? → wenn akut, dann rasch vorstellen/versorgen
  • Wann haben Sie die Fraktur bemerkt? → wenn kürzlich bemerkt, dann nächste Frage
  • Sehen Sie im Frakturbereich einen roten Punkt? → wenn ja: Pulpeneröffnung, rasch vorstellen
  • Sehen Sie im Frakturbereich einen braunen Punkt? → wenn ja: Fraktur schon älter, kein akuter Notfall
  • Ist der Zahn verfärbt? → Alle Verfärbungen sind unphysiologisch – die Katzen müssen vorgestellt werden, sind jedoch kein akuter Notfall.

Tipp

Katzen mit Schädeltrauma haben oft Einblutungen in die Nasenhöhle und eine deutliche Einschränkung der Nasenatmung.

Es ist eine große Erleichterung für die verletzten Katzen, wenn die Blutkrusten entfernt werden. Wann immer möglich, sollte dies bereits vor der Narkose versucht werden.

Über die Autorin

Martina van Suntum ist Fachtierärztin für Kleintiere und Fachtierärztin für Zahnheilkunde Kleintiere. Sie leitet die Zahnklinik für Tiere in der Tierärztlichen Klinik Germersheim.

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